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Deutscher Sonderweg

Die Theorie vom „deutschen Sonderweg“ und die Einwände dagegen

Sie besagt, dass Deutschland einen nicht normalen Weg der Modernisierung gegangen sei, wobei dieseModernisierung sich bezieht

  1. auf die Industrialisierung
  2. den damit verbundenen Wandel der Sozialstruktur (Aufstieg von Arbeiterschaft und Bürgertum, Rückgang der Bauern, von der Agrar- zur Industriegesellschaft)
  3. den damit verbundenen Wandel politischen Einflusses der alten führenden Kräfte (Adel, Kirche mit abnehmendem, Bürgertum und Arbeiterschaft mit steigendem politischem Einfluss)
  4. den damit verbundenen Wandel der politischen Institutionen hin zum liberalen Verfassungs- und Rechtsstaat

Der normale Weg sei der erfolgreiche revolutionäre Weg Englands und Frankreichs gewesen, der deutsche Weg sei insofern ein Sonderweg gewesen, als in der führenden Macht des deutschen Kaiserreiches, Preußen, 

  • nur Punkt 1 und 2 vollständig, die restlichen Punkte unvollständig bzw. verspätet verwirklicht worden seien. 
  • die preußischen Reformen von oben die Revolution von unten ersetzt hätten
  • die 1848er Revolution gescheitert sei 
  • die Revolution von 1918 zu spät gekommen sei 
  • Adel und Kirche einen überproportionalen politischen Einfluss ausgeübt hätten, festgeschrieben in der Verfassung Preußens (Dreiklassenwahlrecht, Monarchie, usw.) und des Kaiserreichs (Bundesrat, Monarchie, Vorrechte Preußens) und ausgeübt in Armee, Verwaltung, Schulen als Stützen des Konservatismus
  • der preußische Bürger ein typischer Untertan gewesen sei (vgl. den gleichnamigenRomantitel von Heinrich Mann), intolerant, unkritisch, militaristisch und überheblich, auch antisemitisch

Das habe die Weimarer Republik geschwächt („Demokratie ohne Demokraten“) und den Nationalsozialismus vorbereitet, der ohne diese Entwicklung im Kaiserreich nicht denkbar gewesen sei. Das Kaiserreich wird so zu einem Vorläufer des Nationalsozialismus gemacht, der Nationalsozialismus zu einer quasi logischen und unausweichlichen Konsequenz des Kaiserreichs. 

Diese Theorie stößt auf gewichtige Einwände: 

  • Es gibt keinen normalen und unnormalen Weg der Entwicklung, wobei letzterer nicht nur nachteilig, sondern auch schlecht ist. 

Der preußischen Weg der Reform von oben hat Deutschland im Vergleich zur Französischen Revolution jede Menge Revolutionsgräuel und Zerstörung erspart. Zwar war der reformerische Weg langsamer, und die Diskrepanz zwischen wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklung im Kaiserreich einerseits und politischem System andererseits wuchs an, aber diese Spannung wurde in der Revolution von 1918/1919 ausgeglichen. Es fand eine Anpassung statt. Schon das Kaiserreich kannte auf Reichsebene das allgemeine Wahlrecht, sogar vor England. 

Dass es zum Nationalsozialismus kam, hängt viel mehr mit dem Versailler Vertrag, mit der Weltwirtschaftskrise und (wirtschafts)politischen Fehlern zusammen als mit Fehlern und Nachwirkungen des Kaiserreichs. Eine Zwangsläufigkeit gab es jedenfalls nicht. Die Aufwertung der englischen und französischen Entwicklung hängt mehr mit der (richtigen und notwendigen) Westbindung der alten Bundesrepublik zusammen als mit historischen Notwendigkeiten. 

  • Es gibt in der Geschichte generell keine zwangsläufige Entwicklung hin zu einem bestimmten Ereignis oder einem bestimmten gesellschaftlichen und politischen System wie dem Nationalsozialismus. 

Die Auseinandersetzung zwischen König und Kronvasallen im Mittelalter kann mit einem Sieg der Krone und einer Zentralisierung enden wie in Frankreich oder in einer Schwächung der Krone und einer Stärkung der Vasallen und dezentralisierter staatlicher Entwicklung enden wie in Deutschland. Der Kampf zwischen städtischem Patriziat und Zünften im Spätmittelalter kann mit einer Patriziats- oder Zunftverfassung enden. Die Modernisierung wird überall von ähnlichen Akteuren und Kräften bestimmt. Welches Ergebnis aus dem Kräfteringen hervorgeht, hängt von einer Vielzahl von Faktoren ab, von den örtlichen und regionalen Gegebenheiten bis hin zu individuellen Akteuren. Es wäre deshalb besser, von einem deutschen bzw. preußischen Weg, von einem französischen und englischen Weg der Entwicklung zu sprechen, als von einem deutschen Sonderweg.

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